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Einatmen ausatmen - 15. März 2023

 

Hediger hat von seiner Therapeutin erfahren: «In der Ruhe liegt die Kraft.» Als er in F‘tan in die wacklige Bergbahn steigt und zum Berggipfel schaut, erinnert er sich an die letzte Sitzung, in der Dr. Schaub ihm empfahl: «Fahren Sie einige Tage in die Berge. Das wird Ihnen guttun. Entspannen Sie. Atmen Sie bewusst in den Bauch und sagen Sie ‚einatmen, ausatmen‘.»

 

«Ja, ja, geil, gell!», schreit der junge Braunhaarige plötzlich ins Smartphone, der sich gleichzeitig in die Kabine der Bergbahn drückt. Die 4er Gondel holpert an einem Masten vorbei und schüttelt Hediger durch.

«Was meinsch? Ich cha di nöd ghöre», sagt er und wirft seine braune Mähne aus der Stirn, während über ihnen ein Mäusebussard seine Kreise zieht.

Hediger hat einen flachen Atem und schaut sein Gegenüber böse an. «Muss das sein?», denkt er, «Smartphones sollten in den Bergen verboten sein.» Er trommelt mit seinen Fingern auf dem Oberschenkel, schaut mal auf die vorbeiziehenden Baumkronen, mal zum jungen Mann.

«Also, ich muess», sagt er und drückt den Anrufer weg. «Einatmen. Ausatmen.» Hediger steigt erleichtert aus der Kabine. Ein lauer Bergwind weht ihm ins Gesicht.

Bei der ersten Verzweigung begegnet er drei Männern, die den gelben, weissen und roten Wegweiser studieren. Ein Pfeil zeigt nach links: Alp Laret 2h. Der andere nach halb links: Alp Laret 2h 30min.

«So was», sagt Hediger und faltet die Karte auf.

«Gell», grinst einer der Männer und kaut an einem Grashalm.

«Worin unterscheiden sich die Wege?», fragt er den Kauenden.

«Schotterstrasse und gemütlich der eine..., steiler Aufstieg durch den Wald der andere.» 

«Gemütlich passt», sagt er und hofft, dass die drei den anderen Weg wählen, denn Hediger denkt an Dr. Schaub, der ihm empfahl, auf einer Wanderung in sich zu gehen und nochmals über seine berufliche Situation nachzudenken. Dabei immer ein- und aus- und ein- und ausatmen.

«Wir drei nehmen es sportlich. Steiler Aufstieg.»

Hediger denkt an seine zwölfstunden Arbeitstage. Die Medikamente bringen nicht viel. Hedwig, seine Frau, sorgt sich. Plötzlich rattert es hinter Hediger. Ein Traktor rumpelt an ihm vorbei. Staub. Gestank. Ein Klumpen Mist klatscht auf den Boden. Sofort stinkt es. Hediger nimmt einen Schluck aus der Flasche und spült den Staub hinunter.

Bevor er seine Gedanken wieder sammelt, beobachtet er weiter unten auf der Schotterstrasse, wie ein roter Golf RS noch knapp die Kurve kriegt und mit dem Heck ausbricht. Wenig später stoppt der Wagen neben ihm. Bevor Hedigers Adrenalin so richtig einsetzt, streckt ein Hipster seinen Kopf zum Fenster heraus und fragt:

«Alp Laret?»

Hediger weist mit dem Zeigefinger den Weg.

«Wie lange noch?»

«Zu Fuss zwei Stunden», antwortet Hediger und hofft, der Fahrer merke, dass das ein Wanderweg und keine Autobahn sei und dass sie am besten umkehrten und die Wanderschuhe schnürten oder noch besser wieder nach Hause führen.

«Hat es Restaurant?»

«Ruhetag», sagt Hediger. Er ist sauer, wird böse und wünscht, sie wendeten den Wagen.

Stattdessen drehen die Räder durch und wirbeln Gräser und Kies in die Luft. Immer ein- und aus- und ein- und aus- und ein- und ausatmen.

Dr. Schaub hätte ihm besser eine einsame Insel empfohlen oder einen Trip durch die Wüste. Hediger beobachtet auf der anderen Talseite einen Hängegleiter. Das wäre es. Schwebend durchs Leben. Leichtigkeit des Seins. Kein Lärm. Keine Last. Kein Frust.

Kurz vor der Alp Laret biegt Hediger auf einen schmalen Pfad. Über seinem Kopf knistert eine Hochspannungsleitung. Elektrosmog? Hediger zieht automatisch den Kopf ein und meint zu spüren, wie sein Herz zu rasen beginnt. Er atmet tief in die Lunge. Einatmen, ausatmen, einatmen. Eine Heuschrecke juckt ins hohe Gras. Das wäre es. Ein Sprung über seinen Schatten. Sich nicht immer verantwortlich fühlen. Es nicht immer recht machen wollen. Den Perfektionismus ablegen können. Er glaubt, dass Dr. Schaub ihm riet, sein Leben zu überdenken. Plötzlich reisst ihn ein aggressives Klingeln aus seinen Gedanken.

«Achtung!», ruft ein Biker.

«Pass auf.»

«Pass selbst auf, das ist ein Biker-Trail.»

Hediger macht den Pfad zur Hälfte frei. Der Biker streift mit seinem Knieschutz Hedigers Oberschenkel und stösst ihn leicht zur Seite. Er riecht des Bikers Atem und dessen Schweiss.

«Rowdy», wettert Hediger, atmet ein und aus und sieht dem Biker hinterher.

Von weitem hört er aus einem Lautsprecher eine Ländlerkapelle. Der Pfad macht eine letzte Krümmung. Hediger riecht Frittieröl und einen Gasgrill. Er zückt sein Taschentuch und wischt den Schweiss von der Stirn. Er spürt, wie sein Herz hämmert. Seine Waden sind müde.

Unter einem Sonnenschirm winken ihm die drei Männer, mit denen er bei der Verzweigung gesprochen hat. Polternd rücken sie zusammen und prosten sich mit einer Stange zu.

«War ein harter Aufstieg», meint einer.

«Dir fehlt die Kondition.»

«Da ist meine Route doch besser gewesen. Ich genoss die Ruhe und hörte einen Specht, wie er an einen Stamm hämmerte.» Er verschwieg seinen Ärger bewusst.

«Dafür sitzen wir bereits vor unserem zweiten Bier», meint einer und sie lachen.

Plötzlich kommt Hediger, er hätte es beinah vergessen, noch etwas in den Sinn, das ihm Dr. Schaub mit auf den Weg gab, etwas Naheliegendes und doch so Fernes: «Sehen Sie Menschen als ihre Freunde. Sprechen Sie mit ihnen.»

«Prost», grinst Hediger und schaut ganz entspannt und vergisst für einmal das bewusste tiefenentspannte ein- und ausatmen.

 

 

 

 

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